Brief des Matrosen Harald Jürst
Liebe Eltern!
Es war vorgestern eine Katastrophe, wie sie wohl die Deutsche Reichsmarine seit langer Zeit nicht mehr erlebt hat.Ich glaube, es war ein Ereignis, das keinem in seinem Ernst in den ersten Minuten zum Bewustsein gekommen ist. - Wir steuerten SO-Kurs, waren !1/2 Meilen vom Fehmarn-Feuer schiff entfernt. Hatten das Feuerschiff schon passiert. Zehn Minuten vor 14.00 Uhr war „Pfeifen und Lunten aus" gepfiffen worden. In fünf Minuten flog „DOX" in weiter Entfernung an uns vorbei, eingehüllt in dunkle Gewitterwolken, als ein leuchtender Punkt. Wir gingen wieder hinunter, fegten unsere Räume aus, bis „Antreten zum Dienst" gepfiffen wurde. -Wir traten an unseren Plätzen an. Es kam der Befehl: „Steuerbordwache klar zum Manöver. Obersegelbergen!"
Die andere Wache ging in den Wohnraum, um mit Herrn Oblt. z. S. Reinhard Unterricht zu machen. Bramsegel (Großtopp und Vortopp), Großstengestagse-gel, Besanstoppsegel wurden weggenommen. Es war alles klar, so daß auch unsere Wache mit Unterricht anfangen konnte. Da hieß es: „Erste Korporalschaft an die StB.-Brassen." (Wir lagen über BB.-Bug). Die waren vorher nicht genug durchgesetzt worden.
Als wir an der Arbeit waren, kam von hinten: "Ölzeug holen!" Jedoch waren wir noch nicht fertig; vielleicht waren es zwei, die in die Segellast gingen, um dem Befehl Folge zu leisten. (Otten und Pietsch sind von unserer Korporalschaft als einzigste vermißt).Ich zog an der Braß, als ein entsetzlicher Wind einsetzte. Das Schiff legte sich über. Das Wasser sprudelte über die Leereeling.Ein Anblick, der uns Freude machte. Das war christliche Seefahrt! - Aber da: Das Schiff verharrte in dieser Lage legte sich mehr und mehr über. Ich hängte mich in die Wanten, stieg auf die (Luv)-Bordwand.
„Alle Mann klar zum Manöver!" Es waren Sekunden. Die Segel näherten sich mehr und mehr dem Wasser. Die Backbordjolle schlug voll (Wasser). Die (Luv)-Bordwand wurde von mehr und mehr Kameraden besetzt. - Die Segel liegen (nun) auf dem Wasser. Die Wassermengen strömen in die Niedergänge. Und doch glauben wir noch an unsere NIOBE „Sie verläßt uns nicht."
Der Kommandant befiehlt „Klar bei Schwimmwesten!" Doch nur wenige (Schwimmwesten) sind aus der Jolle da.Der Kommandant hängt an der Reeling, daneben der Obersteuermann Tamm, dann der Oberbootsmann Kühn, unser guter alter Schmadding. Ich komme Tamm zu Hilfe, ziehe ihn noch auf die Bordwand. Andere helfen dem Kommandanten. Vorn sind einige bemüht, den Obermaat Eul aus dem Bulleye zu ziehen. Es geht nicht. Dies ist alles eine Arbeit von Sekunden, und in diesen Sekunden stehe ich bis zum Bauch im Wasser. Ich sehe noch den Rudergänger, wie er sich vergeblich bemüht, das Schiff in den Wind zu drehen; aber das ist ja alles schon vorbei. Nur noch der Klüverbaum guckt aus den Fluten, ober darauf H ein Lammers (vom Stamm). Ehe ich mich versehe, habe ich den Boden unter den Füßen verloren. Jetzt bin ich auf mich selbst angewiesen. Nicht die Nerven verlieren, zusammenreißen! Deine Eltern dürfen Dich nicht verlieren!
meiner Nähe schwimmt einer vom Stamm mit Schwimmweste. Ich denke, der kann mich doch halten. Aber die Dinger tragen nicht. Er hat Angst, ich wäre ein Ertrinkender, stößt mich fort. Ich bitte ihn nochmals. Er hält mich, jedoch hat es keinen Zweck. Ich reiße mir die Arbeitsbluse vom Leib. Dieses erst wäre geschafft! Ich schwimme weiter: Nun die Hose! Ich sacke ab, tiefer, tiefer, bis das Beinkleid auch abgerissen ist. Die Schuhe sind aus. Nun kann ich wenigstens schwimmen. Im komme zu dem Gros. An einer Gräting hingen der Kommandant, der Oberbootsmann und einige von uns (Matrosen). Oblt. Lott hat eine Boje (Rettungsring) erwischt. Mit mehreren ist er daran. Eine zweite Boje hält Obermaat Behn.
Ein Dampfer! Er fährt! Jetzt erst sehe ich ihn. Alle bewegt die Frage gegen See und Wind und Strömung zum Dampfer? - Oder mit Wind, Strömung und See nach Laaland - es schimmert m der Ferne! — Ich entschließe mich zu ersterem. - Volldampf voraus! Ich schwimme unentwegt mit Kurs: Dampfer. Den Kompaßdeckel nehme ich einmal zum Festhalten. Er taugt nichts, dreht sich immer um. Weiter! Kein Mensch mehr um mich. Da sehe ich vor mir Moeller, in 10m Abstand schwimmen wir weiter. Im Takt mit den Kameraden wird „Hilfe" gerufen. Auf dem Wellenberg wird der Arm gehoben. Eine Regenböe! Der Dampfer, der eben noch so groß war und lang, verblaßt grau in grau. Die Hoffnung sinkt. Aber nur für einn Augenblick, dann - Rettungsboote kommen. Ein rotes vom Feuerschiff, zwei weiße vom Dampfer. Ich bin der erste, den das weiße nimmt. Dann kommt Moeller. Wir ziehen ihn gemeinsam hoch. Nun zum Kommandanten. Doch viele schwimmen dazwischen, mehr und mehr. Das rote Boot nimmt KptLt. Ruhfus auf. Als letzter schwimmt Signalgefreiter Guillaume im Wasser. Er ist kreideweiß, doch wir bekommen ihn noch. Es wird gegen das wogende Meer gekämpft.
Etwas später befindet sich unser kleiner Haufen an Bord des Dampfers „ THERESIA RUSS" alles in allem sind 39 Mann gerettet. Eine Stunde dauert die Schlacht mit dem Meer, der so viele zum Opfer fielen. Sieben konnten sich aus den Wohnräumen retten. 69 Mann ruhen teils in den Wänden ihres lieben Schiffes, teils auf dem Meeresgrund.Die Besatzung (der „ Theresia russ") betreut uns fabelhaft. Alle waren in den Booten, bis auf den Kapitän und den Koch. Tabak steht uns zur Verfügung, Brote, Kaffee kann jeder trinken.Das Boot vom Feuerschiff kreuzt: es ist nichts mehr zu finden, Flugzeuge kommen: sie sehen nichts; U.Z.(s)-Boote brausen heran: vergeblich. Das Los ist entschieden: die Kameraden tot.
Nach langer Zeit (das Gefühl dafür haben wir verloren) steigen wir in eine „Köln"-Barkasse. Zwei Kranke (in der Kombüse verbrüht und Arm ausgekugelt) kommen später. Wir legen an den Kreuzer an. Da ertönt für die toten Kameraden und für die überlebende Besatzung ein tiefes ernstes Hurra. Später steigen wir auf die „KÖNIGSBERG" über. Der Kommandant der „NIOBE" spricht noch einige tief erschütternde Worte. Der Kommandant, von dem jeder weiß, daß er nicht ein bißchen Schuld hat, schrecklich für ihn, diese Last, diese Menschenleben, das alte Schiff!
Trotz des Ernstes ist uns allen das Ereignis ein Rätsel und fast ein Traum. Wir können es nicht begreifen. Die besten gingen von uns.
Harald (Jürst)
Tag der Katastrophe: 26. Juli 1932 ca. 14.30 Uhr
Mit freundlicher Genehmigung von Karl-Wilhelm Klahn
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